Duden-Redaktionsleiterin mit einem Exemplar des Wörterbuchs
Bildrechte: Wolfgang Kumm/Picture Alliance

Kathrin Kunkel-Razum

Per Mail sharen
Artikel mit Audio-InhaltenAudiobeitrag

Faszination "Hühnergott": Duden-Chefin über ihre Lieblingswörter

Karin Kunkel-Razum, die Chefredakteurin von Deutschlands wohl bekanntestem Wörterbuch, schätzt skurrile Vokabeln, deren Bedeutung nicht jedem geläufig sein dürfte: Darunter "Onsen-Ei" und "Lulau". Nötig sei in allen Streitfällen: "Gelassenheit".

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Sie gelten nach altem Volksglauben als Glücksbringer, vor allem entlang der Küsten des Schwarzen Meeres: "Hühnergötter" sind Fundsteine mit einem Loch in der Mitte. Die Krim-Tataren sollen einst geglaubt haben, dass das Federvieh mehr Eier legt, wenn ein "Hühnergott" im Stall aufgehängt wird. Heute hängen sich Touristen besonders dekorative Exemplare um den Hals.

Neben "Augenweide" gehört der "Hühnergott" zu den erklärten Lieblingsvokabeln von Kathrin Kunkel-Razum, der Chefredakteurin der Duden-Redaktion in Berlin, wie sie in einem Beitrag für eine Sonderausgabe der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT zum 75. Geburtstag der Bundesrepublik verriet. Im Duden selbst wird die ungewöhnliche Bezeichnung der charakteristischen Steine so erklärt: "Lehnübersetzung von russisch kurinyj bog, aus: kurinyj = Hühner- (zu: kuriza = Huhn) und bog = Gott."

"Lalalu" muss nicht jeder kennen

Im Gespräch mit dem BR bestätigte Kunkel-Razum weitere von ihr genannte Lieblingswörter, etwa "Augenweide" und "fluffig". Andere Begriffe dagegen, die die Chefredakteurin sehr schätzt, wird der Leser im Duden nicht finden: "Lulau" und "Lalalu". Kunkel-Razum klärt auf: "Es klang ja an, dass diese Begriffe aus unserer Familiensprache stammen. Der 'Lalalu' war der Schlafanzug und der 'Lulau' ein Flugzeug. Unser Sohn hat diese Wörter benutzt. Das hat sich im allgemeinen Sprachgebrauch nicht durchgesetzt und war somit nicht 'dudenreif', wie wir scherzhaft dazu sagen."

Nicht jedermann geläufig sein dürfte auch das "Onsen-Ei", also Eier, die in japanischen Heißwasserquellen gegart werden, und zwar bei einer Temperatur unter 70 Grad, damit sie eine wachsweiche Konsistenz erhalten. Kunkel-Razum betont auch, dass die "Gästin" als Begriff für den weiblichen Gast keineswegs eine neumodische Hervorbringung von Gender-Aktivisten ist, sondern schon im Wörterbuch der Brüder Grimm aus dem 19. Jahrhundert nachgeschlagen werden kann, ähnlich wie "Engelin" und "Geistin".

"Lifehack" und "Brexiteer"

"Wir gucken uns sehr genau das Aufscheinen von neuen Wörtern an, wir arbeiten mit einem sehr großen digitalen Korpus, da sind 6,7 Milliarden laufende Wortformen drin", so Kunkel-Razum: "Da gucken wir, wie oft ein bestimmtes Wort vorkommt." Es reiche nicht, wenn jemand einen Begriff "fünfzig Mal platziere".

Zu den neuen Vokabeln der letzten Neuauflage, die Eingang in den Duden fanden, gehörte der "Lifehack", also der alltägliche Kniff, der eine Problemlösung beschleunigt, auch durch eine alternative Anwendung bekannter Gegenstände, der "Enkeltag" als Bezeichnung für die Zeit, in der Großeltern auf die Enkel aufpassen, und der "Brexiteer", ein britischer Politiker, der den Austritt aus der Europäischen Union verteidigt.

Probleme mit dem "Erdrutschsieg"

Leider sei es mit der Rechtschreibung auch in großen Medien nicht mehr so weit her wie ehedem, seufzt die Duden-Expertin gegenüber dem BR. Sie halte aber nicht viel von der Klage, "früher sei alles besser" gewesen. Bedauerlich sei allenfalls, dass nicht mehr so genau nachgelesen werde, was online publiziert werde. Kunkel-Razum fürchtet in diesem Punkt um die "Vorbildfunktion" großer Zeitungen und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Sie nennt auch ein Beispiel für widersinnige Wortschöpfungen, die in den Medien beliebt sind: "Ich finde ja immer den 'Erdrutschsieg' so interessant, weil damit von Journalisten meistens gemeint wird, dass jemand mit großen Abstand gewonnen hat. Nach meinen Verständnis geht bei einem Erdrutsch ja etwas nach unten, es müsste eher 'Erdrutschverlust' heißen. Das Sprachbild ist also genau umgekehrt."

"Schlitterschlatter" ist hochaktuell

Es versteht sich von selbst, dass Kathrin Kunkel-Razum das "Wörterbuch" auch zu ihren Lieblingsbegriffen zählt. Der Duden enthält derzeit übrigens rund 148.000 Vokabeln, was gar nicht so imposant ist wie es zunächst scheint: Die Brüder Grimm und ihre Nachfolger spürten bei der Herausgabe ihres 17-bändigen Lexikons zwischen 1852 und 1971 sogar 450.000 dokumentationswürdige Wörter auf.

Ein "Wortschatz" im eigentlichen Sinn, der manche vor ein Rätsel stellen dürfte: "Wackelsinnigkeit" zum Beispiel bedeutet soviel wie Unbeständigkeit, die "Tollmutter" ist eine Aufseherin im damals noch als "Irrenhaus" bezeichneten psychiatrischen Krankenhaus, die "Fuchsschwanzstreicherin" eine devote Schmeichlerin und das "Schlitterschlatter" unnützes Gerede. Das allerdings scheint in der Internet-Ära hochaktuell.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

Verpassen war gestern, der BR Kultur-Newsletter ist heute: Einmal die Woche mit Kultur-Sendungen und -Podcasts, aktuellen Debatten und großen Kulturdokumentationen. Hier geht's zur Anmeldung!